BGV Oberberg betrachtet das lokale Gesundheitswesen der Vergangenheit

Wir haben schon die Versuche der Vorfahren betrachtet, wie sie vor 500 Jahren Heilung suchten, körperliche Krankheiten verhüten oder abwenden wollten, wobei uns die Angebote der Kirche mit ihren Tröstungen, Hoffnungen und Gnadenmitteln begegnet sind, die sowohl körperliche als auch geistliche Reinigung, Wiederherstellung und Gesundung bringen sollten. Dass es in unserer Heimatregion um die medizinische Versorgung äußerst notdürftig bestellt war, ist uns schon klar geworden, es fehlte an Ärzten und Krankenhäusern, die Medizin steckte bis ins 18. Jahrhundert noch in den Kinderschuhen, gebunden an antike Theorien, spekulative Heilmethoden oder rein praktisches Erfahrungswissen.
Für Gummersbach erfahren wir zwar von zwei berühmten Ärzten, Johann Heinrich Wiefel (1804-1883), der sich insbesondere als Operateur einen Namen machte und von Ludwig Winckel (1809-1892), der mit dem Vorgenannten gemeinschaftlich praktizierte und speziell auf dem Gebiet der Gynäkologie Hervorragendes leistete. Aber schon die Umstände von Winkels Antritt in Gummersbach wie auch sein Abgang sind bezeichnend für die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts in der hiesigen Medizin. 1842 kam er hier an, wo gerade der einzige Arzt am Ort, Dr. Wüste, an Typhus verstorben war.
Bei der exemplarischen Lebensgeschichte der beiden berühmtesten Ärzte Oberbergs – Dr. H.L. Winckel und Dr. H. Wiefel – in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts wird immer wieder auf die Erbärmlichkeit der Gegend hingewiesen, die die bäuerlichen Einwohner kaum ernährte und schon gar nicht den Luxus einer ärztlichen Behandlung erlaubte. Immer wieder wird berichtet, wie die Ärzte auf ihren Rechnungen sitzen blieben, so dass es keinen weiteren verlockte aufs Land zu ziehen. Da es im Lande auch keine herrschaftliche Hofhaltung gab, konnte sich nirgends ein Leibarzt profilieren. Mit den beiden genannten berühmten Operateuren arbeiteten auch die Kreisärzte zusammen (Waldbröl, Gummersbach, Mülheim). Es ist zu hoffen, dass dann aus öffentlicher Kasse Geld floss, wenn ein Konsil gewünscht wurde. Der Gummersbacher Kreisphysikus Dr. Platte sieht aber die Wurzel des Übels und verspricht sich erst Besserung, wenn der Staat die Ärzte bezahlt, letztlich also in einem öffentlichen Gesundheitswesen. Außer Impfungen oder statistischen Berichten, Hygienemaßnahmen, Kontrolle der Medizinalpersonen hatte der Kreisphysikus wenig mit der praktischen Medizin zu tun. Seine Stellung war jedoch gesichert, sodass Dr. Winkel eine solche Stellung erst in Gummersbach, dann auch auswärts im Landkreis Mühlheim anstrebte, um den kärglichen Verhältnissen auf dem Lande zu entgehen. Interessant und bisher weitgehend unbeachtet ist die Mitteilung, dass er in Gummersbach auch selbst von 1849-1868 ein kleines Krankenhaus für Geisteskranke betrieb – in seinem Wohnhaus an der Brückenstraße. Sicherlich muss man sich darunter eher eine Einrichtung als „Verwahranstalt“ in privaten Räumen vorstellen, wo er die Patienten auch nebenher betreuen konnte. Auf diesem Felde waren die damaligen Fortschritte noch geringer als auf dem Gebiet der Chirurgie oder Seuchen-Heilkunde.
1842 wurde in USA die erste Äthernarkose durchgeführt, die über England auch auf den Kontinent kam. Es fehlte an Desinfektion, Antisepsis, Mitteln der Blutstillung und Antibiose. Zur Beruhigung diente Opiumtinktur. Nicht einmal der Weg der Infektionen war bekannt. Unvorstellbares hatten die Menschen auszuhalten, zu erdulden. Bei Erkrankungen stand man schnell am Rande des Todes, so bei Unfällen, Infekten, Kinderkrankheiten, Schwangerschaft und Geburten. Pocken, Cholera, Ruhr und Typhus zogen immer wieder in Epidemien übers Land. Eine Volkskrankheit war auch die Tuberkulose, der insbesondere jüngere Menschen zum Opfer fielen. Der genannte berühmte Dr. Winckel hatte selbst 10 Kinder, von denen etliche jung starben.

Nach 26 Jahren verließ er 1868 Gummersbach wieder, weil er in einer größeren Stadt mit Krankenhaus arbeiten wollte, was er in der nächsten großen bergischen Stadt Mülheim am Rhein vorfand, wo er noch bis ins hohe Alter praktizierte.
In Oberberg war in Bauernstuben operiert worden ohne Narkose und ohne Asepsis, Errungenschaften, die erst noch erfunden werden mussten. In Mühlheim standen dem Arzt drei Krankenhäuser zur Verfügung, ein städtisches, ein katholisches und ein evangelisches. Gummersbach musste noch bis 1884 auf ein erstes städtisches Krankenhaus warten. Was sich seit dem Mittelalter Krankenhaus nannte, war oft eine Einrichtung der Armenfürsorge, die entweder von Klöstern betrieben wurde oder von städtischer Selbstverwaltung. Dabei ist das Beispiel der bergischen Hauptstadt Düsseldorf sehr charakteristisch: Gleich hinter dem Ratinger Tor beim Einlass in die alte Stadt hatten die Kreuzherren, ursprünglich ein Kreuzritterorden, der auch das Hospital-Wesen mitbrachte, ein Kloster, St. Anna, dem dann auch eine Herberge für Kranke, Alte und Schwache angeschlossen war. Zugleich konnte hier eine Sichtung der Personen durchgeführt werden, die die Stadt betreten wollten und eingeschätzt werden, je nachdem, wohin man sie haben wollte, sei es in die Herberge, ins Arbeitshaus, ins Gefängnis oder vor die Tore.

Dr. Winckel hatte zwar die Stadtwerdung Gummersbachs 1857 erlebt, aber die Verhältnisse waren doch sehr bescheiden. Handel und Schule spielten eine größere Rolle, was wiederum Austausch durch Reisen und externe Schüler mit sich brachte. Lebhaften Durchgangsverkehr gab es infolge der schlechten Straßen weniger, wodurch auch Krankheiten eingeschleppt werden konnten.
Auch in der bergischen Stadt Mülheim gab es seit 1776 ein Hospital, für das im ganzen Bergischen gesammelt worden war. Dazu gehörte auch eine Armenordnung, die Rechte und Pflichten der Insassen, Aufnahmebedingungen und Versorgung bestimmte. Danach war es eher eine Versorgungseinrichtung für Arme, Waisen und Krüppel. Erst durch die französische Herrschaft am Rhein (Großherzogtum Berg) wurde die Institution der kirchlichen Regie entzogen und zu einer bürgerlichen Institution mit Vorstehern für die geschlossene und offene Armenpflege.
G. Bendel schreibt zu den Verhältnissen: Bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts hatte Mühlheim keinen Arzt, ärztliche Hilfe suchte man damals bei den drei Ärzten in Köln oder bei den Amtschirurgen in Bensberg und Opladen, erst um 1750 ließ sich der erste Wundarzt nieder. Er hatte jedoch erhebliche Hürden für die Niederlassung zu überwinden, musste sich als Auswärtiger erst in das Bürgerrecht einkaufen und die Erlaubnis zur Berufsausübung bei der kurfürstlich pfalz-bayerischen Regierung in Düsseldorf einholen.
In Wipperfürth hatte der Wundarzt F. W. Hauss 1796 am Markt ein schönes Haus gebaut, in dem er auch praktizierte. Dieses Haus geriet in Besitz der kath. Kirchengemeinde und darüber in geistliche Hände, wo Nonnen seit 1862 ein Hospital führten, eine Herberge für arme Kranke, Alte und Waisen, „Das Klösterchen“- gefördert und alimentiert durch den Dechant F.W. Dünner – bis 1882 ein neues größeres Krankenhaus erbaut wurde, in dem auch wieder Nonnen die Krankenpflege ausübten. In evangelischen Stiftungen oder protestantischen Kommunen besorgten die Pflege Diakonissen aus Kaiserswerth.
Drei besondere Problemgruppen beschäftigten das staatliche Gesundheitswesen in der Rheinprovinz des preußischen Königreichs: Tuberkulosekranke, Schwangere und Geisteskranke. Für sie wurden eigene Spezialeinrichtungen eingerichtet, erst in beschlagnahmten kirchlichen Bauten, dann auch in Neubauten unter dem Dach der Rheinprovinz, heute noch erkennbar an den alten Namen wie Landes-Klinik, Heilanstalt oder Heil- und Pflegeanstalt. Private Initiativen waren öfter vor Ort vorausgegangen, sei es als Stiftungen, sei es auch in ärztlicher Selbsthilfe wie bei Dr. Venn in Waldbröl oder auch bei Dr. Ludwig Winckel in Gummersbach, der 1849 auch einige Geisteskranke in seinem Privathaus an der Brückenstraße aufnahm und 19 Jahre lang mit den Mitteln seiner Zeit versorgte.
Immerhin gab es in Gummersbach auch eine Apotheke. Bei einer städtischen Wasserversorgung war man aber noch längst nicht angekommen. Damit war die Gefahr wiederkehrender Seuchen aufs engste verknüpft.
Mit den Befreiungskriegen 1813-18 waren auch die Durchzüge fremder Truppen vorbei, die oft in früheren Jahrhunderten Krankheiten mitgebracht oder den Nahrungsmangel vergrößert hatten, was durch Hunger die Anfälligkeit und Schwäche der Landeskinder in früheren Jahrhunderten noch vermehrt hatte. Mangel- und Fehlernährung waren häufig Krankheitsursache. 1846/7 waren schlechte Erntejahre in Preußen, die Kartoffeln hatte eine neue Krankheit befallen und für das Getreide war das Wetter zu schlecht. Hunger war die Folge, was bei den einen aufrührerische Stimmung hervorrief, bei den anderen die Neigung zu caritativem Einsatz, wozu auch die Brotverbilligungsmarken der Zeit zählen, z. B. aus Barmen, Elberfeld und Hückeswagen. Sogenannte Hungermedaillen halten die Notzeiten mit Preisen, Bitten und Klagen fest.

Literatur:
Otmar Kohler, Zwei Oberbergische Ärzte und ihre Bedeutung für den Kaiserschnitt Diss. Köln 1934
Gerhard Pomykaj, Alltägliches Leben aus ärztlicher Sicht, Der Kreis Gummersbach 1825 im Spiegel 2 medizinischer Topographien, Gummersbach 1988
F. R. Hausmann, Oberbergische Gelehrte und andere Persönlichkeiten vom 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Neustadt 1974
Johann Brendel, Die Stadt Mühlheim am Rhein, Mülheim 1913
A. Rothkopf, Zur Entwicklung der medizinischen Versorgungseinrichtungen im alten Oberberg, Band 10, Beiträge zur Oberbergischen Geschichte, 2010

A.R.

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Fotos: Dr. Anna Eiter-Rothkopf